(D 2018)
Tatort – eigentlich eine Reihe von Wöchentlichen Fernsehkrimis im öffentlich rechtlichem Rundfunk Deutschlands, 90 Minuten Jagd nach einem Täter durch mehr oder weniger bekannte Kommissare – die Standartkost deutscher TV-Unterhaltung, meistens mit einem leichtem bis penetrantem sozial-romantisch/-kritischem Beigeschmack, aber bisweilen durchaus interessant. Wie bei diesem, der vom Regisseur Dietrich Brüggemann als „Anti-Tatort“ in bester Autorenfilmtradition abgeliefert wurde, denn der Berlinalegewinner führte nicht nur Regie, sondern schrieb auch das Drehbuch und die Musik für diesen Film, der auch problemlos im Kino hätte laufen können, den Sinn in einer klassischen Krimihandlung macht der Plot eigentlich nicht. Deswegen lag er, nachdem er auf einem Festival des deutschen Films gezeigt worden war, erst mal 18 Monate auf Halde, bis sich der hessische Rundfunk dann doch traute, ihm dem üblichen unvorbereiteten Publikum vorzusetzen – mit erwartbarem Erfolg. Für die einen war er eine Zumutung, eine Verschwendung von Beitragsgeldern, für die anderen eine Offenbarung, ein Genuss.
Was war die Ursache für diese konträren Bewertungen? Krimis funktionieren immer nach dem gleichen Schema – ein Verbrechen wird begangen und am Ende der Täter zur Strecke gebracht, deswegen sind Morde die beliebtesten Verbrechen in Kriminalgeschichten, kennst Du einen, kennst Du alle – wie hier der Kommissar Murot (Ulrich Tukor) feststellt. Und genau das ist das Prinzip dieses Filmes. Ein Thema wird in diesem Fall, wie in Und täglich grüßt das Murmeltier variiert und wie bei Lola Rennt muss irgendwie diese Zeitschleife, in der sich Kommissar und Geiselnehmer Gieseking (Christian Ehrich) verfangen haben, durchbrochen werden, denn jedes mal, wenn Murot scheitert, scheitert er fatal – Game over, und wie bei einem Computerspiel, muss er das ganze Spiel mit einem neuen Leben beginnen.
Der Film beginnt möglicherweise nicht einmal am Anfang [1], denn am Anfang erwacht Murot aus einem Alptraum, bei dem er bei einer Geiselnahme in einer Bank erschossen worden ist – wir sehen das nur im Vorspann, als das Handy klingelt und ihn zu einer Geiselnahme in einer Bank ruft. Wir als Zuschauer lernen so die Protagonisten kennen, den Schuh auf dem Teppich, die Heavy Metal Musik des Nachbarns, die offenen Schnürsenkel von der Joggerin nebenan, die Mutter (Anna Brüggemann) mit ihrem Kind, den Scheibenputzenden Punker, den Kaffee verschüttenden Polizistin, seine Assistentin Wächter (Barbara Philipp), die SEK-Männer, die Situation, die Geiselnehmerin (Nadine Dubois) und die Geiseln. Nein, Murlot kommt das vor, so sagt er zumindest wie ein schlechtes De ja-vue, und nach gut 13 Minuten ist er, wie im Traum zuvor, erschossen und findet sich in seinem Bett wieder, mit klingelndem Handy und Wächter, die ihn über eine Geiselnahme in der Bank informiert – und jetzt beginnt für uns das Publikum der Spaß. Murot weiß, was geschehen wird, der Spieler eines Computerspiels ist ja lernfähig, und geht die Sache diesmal etwas zögerlicher an und ist nach 20 Minuten, also 7 Filmminuten, später tot. Und die Sache beginnt von vorne, aber nur für ihn und den Geiselnehmer. Also frisch forsch an die Sache heran und bei Filmminute 25 wacht er wieder in seinem Bett auf. Den nächsten Versuch geht er mit etwas mehr Vorsorge an, um auch wieder erschossen zu werden. Genervt stürmt er nach 32 Filmminuten in die Bank, nur um in einer Handgranatenexplosition (Egoshooter wie Duke Nukem 3D lassen grüßen) sein Leben zu beenden. Wie kann man so etwas toppen und den Rhythmus des Filmes halten? Nach 34 Minuten weckt ihn sein Handy erneut, und verzweifelt jagt er sich selbst eine Kugel in den Kopf nur um gleich wieder vom Klingeln seines Handy geweckt zu werden – doch auch eine komplette Verweigerung der Situation bringt nichts, bei einem Ausflug ins Grüne erfährt er von einem blutigem Ende der Geiselnahme und er stirbt bei einer Kollision mit einem LKW. Nach dem Anruf nach 39 Minuten, sperrt er sich versehentlich aus und springt deswegen, um ein Reset zu erzielen aus dem Fenster. Nicht einmal 2 Minuten später geht er das Problem jetzt lösungsorientierter an, nur um beim Einbruch in die Wohnung der Geiselnehmerin von einem nervösem Polizisten erschossen zu werden. Diesmal hat es fast 8 Minuten gedauert, bis er wieder in seinem Bett aufwacht – warum läuft her M Amok fragen sich nach 58 Minuten Film diesmal alle von der Polizei, als sie Murot erschießen, aber der weiß jetzt, was er beim nächsten Mal anders machen muss – für ihn ist der Fall jetzt gelöst, er muss jetzt nur noch aus diesem verflixtem Reinkarnationskreislauf ausbrechen. Denn die Ex-Gattin des Geiselnehmers ist die Frau, deren Kind ihm jeden Morgen auf dem Weg zu seinem Wagen, einem Ro-80 [2], über den Weg läuft. Endlich hat er einen Verhandlungsansatz zu dem Geiselnehmer. Der kann sogar mit seiner Partnerin fliehen, nur um in einem Verkehrsunfall zu verunglücken. 11 Minuten später klingelt wieder das Handy und diesmal geht die Planung auf, er, die Geiseln und die Geiselnehmer überleben alle, und auf die Frage der SEK-Beamten, wie er denn das geschafft habe, ist seine Antwort, es sei nicht so schwierig gewesen, er habe nur das gemacht, was er jeden Tag mache. Er wacht auf, das Telephon klingelt nicht, und die Nachbarin hat einen Muskelkater und geht nicht joggen.
Der ganze Film lebt, neben seinem brillantem Drehbuch vom Hauptdarsteller Ulrich Tukur, der diesen leicht sonderlichen Charakter des Kommissar Murot mit einer Würde spielt, die die Ruhe und fatalistische Gelassenheit eines dem Tode geweihten verbleibt. Jeder Tag ist ein Geschenk, und den sollte man genießen (und auch das Geschenkpapier für schlechte Zeiten aufbewahren – danke Dietrich für diesen Satz!). Ja, auch Mord und Selbstmord können extrem komisch sein, wenn die Opfer dieses Schiksal in absurder Würde widerfährt. Dietrich Brüggemann stammt aus einer musikalischen Familie, der Rezensent hat seiner großen Schwester schon einmal bei einem Konzert als Umblätterer gedient, und weiß, wie man einen Variationssatz gestaltet. Entsprechen ist auch der Film durchgearbeitet, Variiert werden Tempo, und so Kleinigkeiten wie Details. Das stolpern über den Schuh ist natürlich eine Anspielung auf die klassische Silvesterwiederholung mit dem Tiegerkopf, die Versuche Murots das Briefing abzukürzen erinnern an die Szene einer Broadwayshow, die Al Jolson in der Jolson Story abkürzt, nur um noch einen weiteren, vom Publikum herbei gesehnten Song zu bringen, und der Grund für diese Zeitschleife widersetzt sich jeglicher Erklärung wie Unfähigkeit das Speisezimmer zu verlassen in Buñuels Würgeengel, der Punker hingegen hat seine Wurzeln im Slapstick und, durch die ewigen Wiederholungen erinnert an die Glasscheibe in Is was, Doc.
[1] Jeder Fall beginnt schon früher lässt Agatha Christie einen ihrer Ermittler, Superintendent Battle in Towards Zero feststellen. Und bei der Verfilmung für eine der Miss Marple Serien fehlt natürlich der Anfang des Buches. [2] Dieser Wankelmotor getriebene Wagen hat so wunderbar schräge Proportionen, passend zu einem schrägen Kommisar.
IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt8475764/reference/
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