The Yellow Ticket

(USA 1931) 

Manchmal erhalten Filme eine ungeahnte Aktualität, obwohl sie das wieder aktuell gewordne Thema nur als Hintergrund für eine völlig andere Handlung verwenden, aber wenn ein uraltes Gespenst wieder umgeht und Menschen stigmatisiert werden, muss man deutlichst darauf hinweisen, was denn diese Stigamtisierung für diese Menschen bedeutet hat, ohne gleich auf die bisherige Endstufe dieses Wahnwitzes und dem filmischen Denkmals von Steven Spielberg für einen der gerechten unter den Völkern verweisen zu müssen[1]. 

Das „Ticket“, bei dem es in diesem Film geht, hat nichts mit Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung oder Fahrkarten zu tun, sondern war ein nötiger Pass, den man im zaristischem Russland brauchte, um als Jude sich außerhalb der traditionellen Siedlungsgebiete des ehemaligen Polens, wohin man nach den mittelalterlichen, respektive frühneuzeitlichen Judenverfolgungen im Heiligen Römischen Reich als östliches Fluchtziel diente, nur um dort im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schon wieder Opfer von Pogromen zu werden. Aufgrund weitverbreitetem Antisemitismus (nicht nur in der Verwaltung) wollte die zaristische Verwaltung keine weiteren Juden in den Städten[2] und entsprechende Anträge wurden in der Regel abgelehnt, mit einer einzigen Ausnahme, so erzählt es uns jedenfalls dieser Film, der sich da nicht sonderlich weit von der Realität (Stichwort Maigesetze) entfernt, für Frauen, die in den Bordellen arbeiten wollen[3].

Und genau an diesem Punkt beginnt Michael Mortons Theaterstück von 1914, das Raoul Walsh 1931 für die Filmgesellschaft Fox auf die Leinwand brachte, damals war es ein wenig Kritik an einem Verbündeten wider Willen, da man in einen Krieg hineingezogen worden war, den man im Grunde seines Herzens gar nicht wollte (Danke, ihr Herren vom preußischen Generalstab[4]), 1931 hingegen wusste man, was in Russland passiert war, und der russische Adel des Zarenreiches war aufgrund einer Revolution und einem verlorenem Bürgerkrieg restlos despektiert.

 Entsprechen hat unsere Heldin Marya (Elissa Landi) natürlich mehrfaches Pech, als sie Anfang 1914 ihren kranken Vater im Petrograder Geheimdienstgefängnis besuchen möchte und ihr als Jüdin der nötige Pass verweigert wird, aber für nur 50 Rubel könne sie sich als Prostituierte registrieren lassen, und damit wäre die Reise möglich. Aus Vaterliebe nimmt sie dieses Angebot an, ohne das Kleingedruckte zu lesen. In Petrograd angekommen, muss sie feststellen, dass ihr Vater die „Behandlung“ durch den Geheimdienst nicht überlebt hat, sie selbst wird gegen den Verstoß gegen berufsbezogene Meldeauflagen für zwei Wochen arretiert und nach Entlassung beinahe von einem niederen Beamten (Boris Karloff) vergewaltigt. Zwar wird sie in letzter Sekunde vor diesem Schicksal durch einen jungen Offizier (Walter Byron) gerettet, der aber auch nur mit ihr ins Bett will, doch dessen Onkel und Vorgesetzter Graf Andrey (Lionel Barrymore) will das auch.
Rettung aus dieser Situation bietet nur ein englischer Journalist (Laurence Oliver), dem sie begegnet, und, oh wunder, beide können am 3. August 1914 Petrograd gemeinsam in einem Flugzeug(!) verlassen. 

Ja, der Stoff ist ein Hintertreppenroman, billigste Kolportage, aber routiniert gefilmt und mit schauspielerischen Schwergewichten exzellent besetzt und eben durch das Thema ein typischer pre-code Film, wenn man daran Denkt, dass Prostitution nach den Vorstellungen der der öffentlichen Moral verpflichteten Zensoren nicht auf der Leinwand dargestellt werden durfte, um sie im wirklichen Leben auszurotten. 

Unser Heldin Marya ist zu gut erzogen, als dass ihr der Feuilletonrombestseller eines Eugène Sue Die Geheimnisse von Paris inhaltlich bekannt gewesen sein dürfte, aber Morton ist dieser Roman bekannt gewesen, denn Sue hat im 19. Jahrhundert sehr gut rescherschiert um auf Missstände der französischen Gesellschaft aufmerksam zu machen, er schreibt ziemlich deutlich, was es für die Frau bedeutet, wenn sie in die Liste der Prostituierten eingetragen wird, und wie sie eigentlich nicht wieder von dieser herunter kommt.
Und, nebenbei bemerkt, Eugène Sue ist auch, über ein paar Ecken, mitverantwortlich für die größte antisemitische Verschwörungstheorie überhaupt, die vom zaristischem Geheimdienst erfundenen Protokolle der Weisen von Zion.

[1] Der Abschaum, der am 7. Oktober vor Freude auf den Straßen tanzte, kann meiner Meinung nach nicht mehr solchen Filmen erreicht werden, würde, so fürchte ich, sogar noch von den SS-Wachen zu weiteren Verbrechen inspiriert werden. 

[2] Wer konnte floh in den Jahren danach über den Atlantik um sich durch Ellis Island schleusen zu lassen und in den Gemeinschaften New Yorks sich ein neues besseres Leben aufzubauen. Die Ablehnung Russlands ging soweit, dass viele sich fragten, ob es ihre Pflicht wäre, sich 1914 als Kriegsfreiwillige für die k.u.k Armee zu melden, doch um das Potential zu nützen, da war der österreichische Generalstab zu deppert, wie er es bis 1918 bleiben sollte. 

[3] Wie weit das „Wollen“ ein „Müssen“ war, ist und bleibt eine offene Frage, auch aus feministischer Sicht. 

[4] Fischer mit seiner exzellenten Studie ist zu sehr objektiver Hermeneutiker um als alleinige Erklärung zu dienen, ich empfehle dringend auch einen ausfürrlichen Blick in Christopher Clarks Schalfwandler zu werfen. In der britischen Regierung begannen sich während der Balkankriege Stimmen zu melden, die den Vertrag mit Frankreich als Fehler zu betrachten begangen und einer Aussöhnung mit Berlin über der Flottenfrage, die man 1914 als gewonnen ansah, zu favorisieren.
So jedenfalls kann man das Verhalten der der Admiräle beim Flottenbesuch der Homefleet im Juli 1914 auch interpretieren. Zwei Monate später schossen die beiden Flotten aufeinander.


IMDB/Link: https://www.imdb.com/title/tt0022582/reference/ 

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